In meinen nun fast 35 Berufsjahren als Tierarzt gab es einige besondere, amüsante und auch berührende Geschichten und Begegnungen mit Patienten und deren Besitzern. Von den meisten dieser Geschehnisse sind nur ein paar wenige Bilder und Details in meiner Erinnerung geblieben.
Nicht so bei der Geschichte um „Charbon“:
Tierarzterinnerung von Dr. Egbert Kröner
In den achtziger Jahren gründete ich mit meiner damaligen Partnerin eine Kleintierpraxis im hohen Norden Deutschlands, in Schleswig-Holstein. Zu unseren ersten Patientenbesitzern gehörte ein sympathisches, sehr tierliebes und irgendwie ungleiches Paar. Er, flachsblond, groß, mit wachen Augen war – typisch Holsteiner – eher schweigsam, und sehr überlegt in all seinen Handlungen. Sie, rothaarig, Typus keltische Schönheit, hingegen imponierte als sehr impulsiv und wortgewandt. Als gebürtige Französin, aus der Normandie stammend, hatte sie nicht nur den so typischen Akzent, sondern sie rutschte bei nahezu jeder Aufregung in ihre Muttersprache – untermalt von einer ausgeprägten Gestik. Da mein Schulfranzösisch, mehr schlecht als recht durch Frankreichurlaube aktiv gehalten, nicht ausreichte, um sie v.a. in Sorge um ihre Tiere zu verstehen, gab es manche Nachhilfestunde für mich – insbesondere in der Nacharbeitung von medizinischen Fachvokabeln. Ihr Partner beschrieb mir – Jahre nach dem ersten Besuch in der Praxis – die typische Rolle der Frau in einer normannischen Familie mit dem Satz „rien ne fait sans elle, tout se fait par elle“. „Nichts geschieht ohne sie und alles, was geschieht, durch sie“. Die beiden hatten zwei weibliche Katzen aus dem örtlichen Tierheim bei sich aufgenommen. Später gesellte sich dann eine Mischlingshündin, mitgebracht aus einem Portugalurlaub, hinzu. Mein erster Leishmaniose-Patient (eine Mittelmeerkrankheit)……..Auch auf anderer Ebene wuchs die Familie. Nach der erstgeborenen Tochter brachte zwei Jahre später ein Zwillingsmädchenpaar endgültig Turbulenzen und viel Leben in die französisch-deutsche Lebensgemeinschaft.
Der schwarze Kater aus der Normandie
Bei den Tierarztbesuchen stand der Familienvater zumeist milde lächelnd im Hintergrund und wachte wohlwollend über seine Frauenschar. Deshalb war es für mich höchst ungewöhnlich, als er eines Abends im Spätsommer 1991 allein mit einem kleinen Katzenkorb im Wartezimmer saß. „Wir sind vorhin aus der Normandie zurückgekehrt. Sie wissen doch, wir nutzen das alte Elternhaus meiner Frau als Ferienhaus“.
Klar hatte ich dies behalten. Das Haus lag hinter den Dünen des Omaha Beach. Jenem Ort, wo 1944 die Befreiung Europas begann, wo so viele junge Menschen dafür ihr Leben lassen mussten. Die „Frauen“ hatten mir schon Bilder von dem vor dem Wind geduckten Häuschen gezeigt.
„Dort ist mir vor zwei Tagen dieses Häufchen Elend über den Weg gelaufen. Nein, wohl eher getorkelt…“ Er holte bei diesen Worten eine Hand voll schwarze Katze aus dem Korb. Völlig abgemagert, rasselnd atmend, ziemlich ausgetrocknet, mit komplett zu geschwollenen, verkrusteten Augen. Ein Jammer. Das Tierchen bestand mit Sicherheit zu 60 % aus fremder DNA – Parasiten, Viren, Bakterien, Pilze…
„Machen Sie bitte alles für ihn. Ich kann es mir nicht erklären, aber mein Herz hängt schon jetzt an dem kleinen Kerl…“
Wir einigten uns darauf „Charbon“ – er hieß Kohle, da er fast komplett schwarz war – vorerst stationär aufzunehmen und ihn mit Infusionen, Medikamenten und Nährlösungen in einen stabileren Zustand zu versetzen. Der kleine Kerl hatte zum Glück keine Leukose- oder FIV-Infektion (beides Infektionskrankheiten der Katze) und mit Hilfe der Familie, insbesondere seines Herrchens, entkam er all seinen peinigenden Erregern und wurde zu einem recht großen, gesunden, sehr selbstbewussten, stattlichen Kater.
Die Kennzeichnung und Kastration ermöglicht das Katerleben
Bei der notwendigen Kastration erhielt er per Tätowierung – es war noch vor der Zeit der Transponderimplantierungen– in dem einen Ohr die Kennzeichnung des lokalen Kastrationsprogramms, in dem anderen die Telefonnummer seiner Besitzer. „Charbon“ war Außenkater und Herrchenkater. Entweder war er in seinem Revier, welches er ohne große Kampfhandlungen dominierte, oder er lag im Büro seines einzigen, von ihm akzeptierten Chefs. Dies im Winter vornehmlich neben dem warmen Drucker.
Im Gegensatz zu den beiden anderen Katzen der Familie war „Charbon“ fahrtüchtig. Vielleicht hatten ihm die vielen frühen Fahrten im Auto die Angst genommen oder hatte einfach keine. Jedenfalls ertrug er klaglos die i.d.R. zwei Urlaubsfahrten der Familie pro Jahr in die Normandie. Ja, er schien regelrecht Gefallen daran gefunden zu haben dort ein zweites Revier zu besitzen. Auch in Frankreich kam er hervorragend ohne physischen Stress mit den dortigen Katzen klar. Man berichtete mir sogar, dass der schwarze Kater die Rituale vor den Fahrten richtig deutete – d.h. beim Beladen des großen Familienautos erschien er stets pünktlich und bestieg bereitwillig seinen großen Transportkorb. Es war im Sommer 1996, wohl bereits am zweiten Schultag nach den großen Ferien, denn meine Kinder hatten sich bereits beim Mittagessen ausgiebig über die neuen „blöden Lehrer“ beklagt, als der Familienvater abends am Ende der Sprechstunde im Wartezimmer auf mich wartete. Er war allein und er sah sichtlich müde und mitgenommen aus.
„Er ist weg… Wir haben „Charbon“ nicht aus der Normandie mit zurück bringen können. Als wir vor vier Tagen begannen das Auto für die Rückfahrt zu beladen, da hab ich ihn noch in die Dünen verschwinden sehen. Er machte dann doch immer seine letzte Runde, als ob er sich verabschieden musste oder die bereits vereinbarten Termine absagen wollte. Wir haben ihn fast drei Tage überall gesucht – aber die Kinder müssen ja nun mal zur Schule – auch ich habe morgen nicht verschiebbare berufliche Vorgaben.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile über ein optimales System die Tierheime, Polizeistationen, etc. in der Normandie zu informieren. Ohne ein Internet, wie es heutzutage funktioniert, eine schon recht anspruchsvolle, organisatorische Aufgabe.
Aber eigentlich wollte „Charbons“ Herrchen vornehmlich reden, den Kummer von der Seele erzählen, hören, dass sein Liebling noch eine Chance hat, er die Hoffnung nicht aufgeben brauchte.
Vermisstes Haustier - Zeit der Ungewissheit
Die Tage und Wochen vergingen, ohne Nachricht von dem Kater. Sein Besitzer nahm sich fünf Wochen später – bei der ersten Möglichkeit – ein paar Tage frei und fuhr allein in die Normandie. Völlig erledigt und ohne Erfolg kam er zurück. Ich traf seine Frau ein paar Tage danach vor der Schule, wo wir auf unsere Kinder warteten. Sie war sehr besorgt und dies wohl mit recht. Sie beschrieb eine ganze Reihe von Symptomen bei ihrem Mann, die man als Anzeichen einer Depression deuten konnte. „Wenn man wenigstens wüsste, was ihm passiert ist – auch mein Mann würde dann wohl seinen Frieden finden…“
Welcher Tierarzt hat diese Aussage nicht schon gehört und ziemlich hilf- und sprachlos neben dem rat- und hilfesuchenden Menschen gestanden.
Im Herbst kam die Familie zwei Mal – zum Glück wegen Routineanlässen – in die Praxis. Jeweils ohne den Vater. Wir schauten uns nur kurz an und ich wusste gleich, dass es nichts Neues zu berichten gab. Ja, ich gebe zu, dass ich die Geschichte nach über drei Monaten im Praxisalltag verdrängt hatte. Es war Ende November und die ersten richtig kalten Tage herrschten in Holstein. Der stetige, kräftige Westwind brachte Graupelschauer und man ertappte sich dabei die üblichen Hundespaziergänge abzukürzen. Die Sprechstunde war schon lange beendet, der allfällige Bürokram erledigt, ja sogar ein paar Seiten im Krimi waren gelesen, als das Praxistelefon klingelte. Zugegebenermaßen nahm ich etwas missmutig ab. „Un urgance, Doktor, wir müssen sofort kommen!“ Kein Name, aber es war klar, wer angerufen hatte…
Unerwarterter Besuch in der Tierarztpraxis
Alle fünf Menschen der Familie betraten die Praxis, der Vater mit einem großen Katzenkorb in der Hand.
„Charbon, er hat es bis nach Hause geschafft!“ Mit erstickter Stimme brachte er, nein presste er diese Worte heraus. Aus dem Korb entließ er einen zerschundenen, verfilzten, eher grauschwarzen, verdreckten Katzenkörper. Der arme Kerl humpelte zwei Schritte, setzte sich mitten auf den Behandlungstisch und begann laut schurrend, nein knatternd eine tiefenentspannte Körperpflege.
„Er kratzte vorhin an der Terrassentür. Ich hab ihn gar nicht erkannt zuerst… Nach dem Öffnen der Tür gab er mir kurz Köpfchen am Hosenbein und marschierte directement auf die Schranktür zu, wo sich das Katzenfutter befindet.“
„Doktor, wir fahren immer 1355 km von Haustür zu Haustür“ sprach der Mann, seinen „Charbon“ wie in Trance weiter trockenreibend. „Es liegen die Seine, der Rhein, Ems, Weser, Elbe – nur, um mal die großen zu nennen – dazwischen. Er hatte doch noch nicht mal eine grobe Straßenkarte…“
Die Veränderung eines Einzelgängers
Noch heute, beim Niederschreiben 20 Jahre später, dies gebe ich unumwunden zu, habe ich eine Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke.
Es bleibt unklar, was dem tapferen Kerl wiederfahren war. „Charbon“ hatte eine mit Sicherheit viele Wochen alte Hüftluxation. War er an dem Abreisetag bereits angefahren worden? War er dort zunächst, z.B. in einem Schuppen, eingeschlossen gewesen und das Malheur ist erst später auf der schier endlosen Rückreise passiert?
Die Hüfte haben wir, nachdem er wieder zu Kräften gekommen war, nach zwei Wochen dann chirurgisch versorgt, zusammen mit mehreren ausgeschlagenen Zähnen. Auch entfernten wir ihm zwei Luftgewehrgeschosse aus der Schulter, welche fistelten und ihm starke Schmerzen bereiteten. All die anderen kleinen Wehwehchen, Parasiten, Ekzeme, entzündete Krallen bekamen wir recht schnell in den Griff.
Noch etwas muss ich gestehen. Als „Charbon“, noch in der Aufwachphase, nach überstandener OP, vor mir lag, kontrollierte ich die Tätowierungen in seinen Ohren.
Kürzel der Praxis, Kürzel des Landkreises, durchlaufende Nummer. Telefonnummer der Besitzer. Es waren exakt die Daten in seiner Kartei…
„Charbon“ blieb wie er war. Ein selbstbewusster, kräftiger Außengängerkater, der sein Revier im Griff hatte und jedes Mal mit in die Normandie fuhr… Nur fremden Menschen gegenüber war er misstrauisch geworden. Er stibitzte sich z.B. nicht mehr beim Nachbarn das zum Grillen vorbereitete Fleisch vom Küchentisch…
Im stattlichen Alter von 15,5 Jahren musste „Charbon“ wegen eines inoperablen Tumorgeschehens eingeschläfert werden.
© Dr. Egbert Kröner, Tierarzt & Klinikleitung, AniCura Kleintierzentrum
Mayen